Thomas Ott: Ein interaktives Modell zum Flächennutzungswandel im Transformationsprozeß am Beispiel der Stadt Erfurt

Gründerzeitliche Stadterweiterungen


Der umfangreiche gründerzeitliche Wohnungsbestand der ostdeutschen Städte stand lange Zeit im Schatten der offiziellen Wohnungsbaupolitik der DDR, obwohl dieser über relativ günstige Wohnungsgrößen verfügt. In den Untersuchungsgebieten Krämpfervorstadt, Andreasvorstadt und Ilversgehofen liegt die Wohnfläche pro Einwohner (vgl. Tab. 28) mit Werten zwischen 30,2 und 31,5 m²/Einw. leicht über dem Erfurter Durchschnitt (29,0 m²/Einw.) und deutlich über den Mittelwerten der Großsiedlungen (z. B. Rieth 25,1 / Herrenberg 24,3 m²/Einw.). Unterlassene Modernisierung und Bestandserhaltung verursachten die heute immer noch überwiegende schlechte Wohnqualität mit Außen-WC, fehlendem Bad, Kohleöfen oder feuchtem Mauerwerk. 1989 verzeichneten nach Pfau (1990) etwa 50 % der vor 1945 errichteten Mehrfamilienhäuser in der DDR schwere Schäden oder waren unbewohnbar. Gründe für die Vernachlässigung der Altbaugebiete waren, daß sie kapitalistische Wohnverhältnisse repräsentierten, die Gebäude häufig in Privatbesitz waren und Neubau billiger erschien (HÄUßERMANN 1995, S. 6). Bis heute sind die gründerzeitlichen Quartiere durch eine hohe Funktions- und Bebauungsdichte mit bewohnten oder gewerblich genutzten Seitenflügeln und Nebengebäuden geprägt. Bei den Bauherren handelte es sich i. d. R. um vermögendere Personen, bspw. Handwerker oder Großbürger. Die ursprünglichen Bewohner rekrutierten sich demgegenüber aus kleinbürgerlichen Kreisen und der Arbeiterschaft. Diese Sozialstruktur blieb im wesentlichen auch in der DDR-Zeit erhalten.

 
Gründerzeitliche Blockrandbebauung in der Andreasvorstadt
     
Erst sehr spät erkannte man die Notwendigkeit von Sanierungs- und Erneuerungsmaßnahmen, um dem Verfall der Bausubstanz Einhalt zu gebieten und ein weiteres Absinken der Wohnqualität hinter die offiziellen Wohnstandards zu verhindern. Anhand von Beispielobjekten wurden Ende der siebziger Jahre erste Erfahrungen gesammelt. So wurden in Erfurt 332 Gebäude im Gebiet Auen-/Adalbertstraße einer städtebaulichen Untersuchung unterzogen und zum Teil renoviert. Auch für die Krämpfervorstadt wurde eine solche durchgeführt (vgl. GATTOS/KRISTEN 1977), jedoch letztlich keine Sanierung oder Modernisierung vorgenommen. Der Modernisierungsstau des Quartiers reicht somit bis in die Zwischenkriegszeit.

Zum Zeitpunkt der Wende lebten viele der Hauseigentümer – als Folge der Kriegswirrnisse oder durch Flucht (insbesondere vor 1961) – nicht mehr in der DDR. Das Wohnungsvergabemonopol und die staatlich verordnete Höhe der Miete schränkten den Eigentumstitel auch für die verbliebenen Eigentümer soweit ein, daß er seine Bedeutung in ökonomischer und letztlich auch juristischer Hinsicht verlor. Zwar gab es wenige förmliche Enteignungen, letztlich gingen jedoch wegen der genannten Gründe zahlreiche Häuser in kommunale Verwaltung über (vgl. WEISKE 1996, S. 172). Mit der Einführung des bundesrepublikanischen Rechts- und Wirtschaftssystems bekamen die Eigentümer die Verfügungsmacht über die Immobilien zurück und investierten i. d. R. in die Renovierung der Häuser.
  Tab. 28: Entwicklungsindikatoren Krämpfervorstadt
Indikator Zeitraum abs. %
Einwohner 1990 13.675
  1995 11.724
Veränderung 1990-1995 -1.951 -14,3
Veränderung 1994-1995 -830 -6,6
Einwohnerdichte [Ew./ha] 1995 23,7
Altersstruktur
Durchschnittsalter 1995 36,0
Anteil unter 18 J. 1995 26,0
Anteil 18-59 J. 1995 61,9
Anteil 60 J. und älter 1995

12,1
Wohnungsbau
Wohnfläche pro Einw. [m²] 1993 30,2
Einwohner pro Wohnung 1993 2,0
Anteil Wohnungen mit 1 Raum 1993 5,0
mit 2 Räumen 1993 31,0
mit 3 Räumen 1993 45,6
mit 4 Räumen 1993 16,0
mit 5 und mehr R. 1993 2,5
Veränd. d. Wohnungsanzahl 1991-1993 -50 -0,8
Infrastruktur
Einwohner pro Laden 1992 153,7
PKW pro Haushalt 1993 0,98
Kommunalwahlen
Stimmenanteil CDU 1990 43,3
  1994 31,3
Stimmenanteil PDS 1990 11,5
  1994 21,7
     
Wohnungen in den Gründerzeitgebieten waren leichter erhältlich als solche in den Großwohnsiedlungen. Dies lag zum einen am schlechten Ausstattungsgrad der Wohnungen, zum anderen waren hier die politisch formulierten Zugangsbedingungen nicht so einschränkend wie in den Neubaugebieten. Die Bewohnerstruktur der Gründerzeitgebiete war hinsichtlich der Kriterien Alter, Einkommen, Familienstand und -größe sehr uneinheitlich (vgl. WEISKE 1996, S. 173). Die heterogene Struktur lebt nach der Wende fort und verstärkt sich durch die in Gang gekommenen Prozesse. Die Alteigentümer, deren Erben oder die Käufer der Häuser investieren in die Sanierung. "In die erneuerten Häuser ziehen Leute ein, die am wirtschaftlichen Leben nach der Wende beteiligt sind und aufgrund ihres Einkommens die hohen Mieten zahlen können" (WEISKE 1996, S. 173).    
     
Während sich der Besatz mit tertiären Einrichtungen und wohnungsnaher Infrastruktur in den gründerzeitlichen Vierteln zu DDR-Zeiten verringerte (vgl. WERNER 1977, S. 85; SCHÄFER 1996, S. 334), bieten sie heute aufgrund ihrer citynahen Lage sowie der vorhandenen Bausubstanz attraktive Standorte für die Ansiedlung von Dienstleistungen oder eignen sich nach der Modernisierung als Wohnstandort für einkommensstärkere Gruppen: "Sie stellen ein geeignetes Feld für ‘Aufwertungsstrategien’ dar, d. h. für aufwendige Restaurierung und Modernisierung mit anschließender Umwandlung in Eigentumswohnungen" (Häußermann 1996a, S. 37).    
     
Die Untersuchungsgebiete Krämpfervorstadt, Andreasvorstadt und Ilversgehofen sind neben der Löbervorstadt (vgl. Kap. 6.5.1.3) im Süden wesentliche Abschnitte des sogenannten "Gründerzeitgürtels", der sich ringförmig um die Altstadt erstreckt. Die Wohnquartiere gleichen – von der nicht vorhandenen ausländischen Bevölkerung abgesehen – in ihrer Problemstruktur und bezüglich der künftigen Entwicklung in hohem Maße den gründerzeitlichen Stadtteilen westdeutscher Städte, die in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren im Zuge des Städtebauförderungsgesetzes Gegenstand von umfangreichen Sanierungs- und Renovierungsmaßnahmen waren (z. B. Modellprojekt Ludwigshafen-Hemshof).    
     
Die Bebauung des Untersuchungsgebietes Krämpfervorstadt erfolgte stadtauswärts überwiegend zwischen 1880 und 1910 mit größtenteils vier- und fünfgeschossigen Wohngebäuden in geschlossener Blockrandbebauung (vgl. Abb. 47). In den Innenhöfen wurden teilweise weitere Wohngebäude errichtet, i. d. R. befanden sich hier jedoch kleinere Gewerbe- und Handwerksbetriebe. Typisches architektonisches Kennzeichen war und ist die Lage von Geschäften und Kneipen vorzugsweise in den Eckgebäuden der Baublöcke. Neben der bereits 1879 errichteten und bis heute bestehenden Malzfabrik existierten bis 1989 41 weitere mittlere und kleinere Gewerbe- und Handwerksbetriebe, die durch ihre Emissionen die Wohnqualität teilweise erheblich beeinträchtigten. Ihre Zahl verringerte sich bis Ende 1994 auf 27. Demgegenüber hat sich der Besatz mit Einzelhandels- und Dienstleistungseinrichtungen zwischen 1989 (46 Einrichtungen) und 1994 (109) mehr als verdoppelt. Betrachtet man jedoch die Branchenstruktur, ist festzustellen, daß diese Geschäfte nicht unbedingt den Quartiersbewohnern zugute kommen. So reduzierte sich beispielsweise die Zahl der Verkaufsstellen für Waren des täglichen Bedarfs (vgl. SCHÄFER 1996, S. 342). Die Zunahme der Geschäfte und Büros vollzog sich überwiegend zu Lasten der Wohnfunktion, wobei vor allem die Erdgeschosse und in einigen Fällen auch obere Etagen in Verkaufsräume und Büros umgewandelt wurden. Gleichzeitig ist der Ausbau der Dachgeschosse zu Wohnungen zu beobachten.    
     
Die fortschreitende Umnutzung der gründerzeitlichen Wohnquartiere vollzieht sich gegen den Willen der städtischen Planungsbehörden, da man sie zu attraktiven innerstädtischen Wohnstandorten umgestalten will. Der Stadtteil Krämpfervorstadt ist als einziger Thüringer Standort in das Förderprogramm der Gemeinschaftsinitiative "Urban" der Europäischen Union aufgenommen worden. Für die Umgestaltung und Erneuerung des Stadtteils stehen in den Jahren bis 1999 24 Mio. DM Fördermittel aus Brüssel zur Verfügung. Für einen Teilbereich, der als Sanierungsgebiet förmlich festgelegt ist, werden weitere Mittel von Stadt und Land zur Verfügung gestellt. Neben einer umfassenden Erneuerung der Bausubstanz und einer Verbesserung der technischen und sanitären Ausstattung der Wohnungen, die sich überwiegend auf Vorkriegsniveau befindet, ist vor allem eine Entkernung der Innenhöfe und eine Neubebauung der Gewerbebrachen vorgesehen.    
     
Die Verdrängung der Wohnfunktion und der schlechte bauliche Zustand der Wohnungen schlägt sich deutlich nieder in der Einwohnerzahl, die zwischen 1990 und 1995 um 14,3 % gesunken ist. Die Ostvorstadt war bereits zu DDR-Zeiten durch überdurchschnittliche Zu- und Abwanderungsraten gekennzeichnet. Diese Tendenz ist auch heute noch zu beobachten. "Die Ostvorstadt ist der Eingang in die Stadt und von dort aus werden die nächsten Migrationsschritte in die Stadt hinein gemacht" (WEISKE 1996, S. 180). Während jedoch vor der Wende eher sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen in diesem Quartier "hängen blieben", wird das Stadtviertel im Zuge des Nutzungswandels und der Renovierung attraktiv für wohlhabendere Haushalte. Es ist zu vermuten, daß die Aufwertung des Viertels und die zu erwartende Mietsteigerung mittelfristig zu einem "Austausch" der ansässigen Einwohner durch andere Bevölkerungsgruppen führt: "Die neuen Bewohner des Stadtteils kommen mit dem Geld und durch das Geld. Ihr Migrationsschritt hängt zumeist mit ihrer Arbeit zusammen – das heißt, sie sind in irgendeiner Weise mit dem ‘Aufschwung Ost’ verbunden. (...) Ihre Wohnungen liegen in den sanierten Häusern, die vorerst als farbige Inseln im grauen Verfall stehen. Ob sie bleiben oder wieder gehen werden, sich in einem anderen Stadtteil eine Wohnung suchen werden, hängt ... daran, wie schnell und wie tief der Sanierungsprozeß im Gebiet verlaufen wird" (WEISKE 1996, S. 180).    

   
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