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Mylonas: Archaische Kalkplastik Zyperns


I. EINFÜHRUNG

Die Aphrodite-Insel bildet seit neolithischer Zeit einen bedeutenden wirtschaftlichen und geopolitischen Knotenpunkt zwischen Ost und West. Die geographische Lage der Insel fast im Zentrum der antiken Welt bestimmte nicht nur seine Geschichte sondern auch seine künstlerische Ausdrucksweise. Da vielen wichtigen Handelswege von Osten und Westen und umgekehrt sich auf Zypern kreuzten und die Insel reiche Kupfervorkommen besaß, stand sie sehr oft unter der Herrschaft und den Einflüssen der großen und kleineren Mächte, die im östlichen Mittelmeerraum eine besondere Rolle spielten. Die Vorgeschichte der Insel ist mehr vom Orient und den dortigen Kulturen beeinflußt. Mit der griechischen Kolonisation der Insel in mykenischer Zeit beginnt eine neue Epoche. Auf die kyprische Kunst wirken nun einerseits die orientalischen Künsten, andererseits die griechische Kunst ein, was zu ihrem Mischcharakter und ihrer Sonderstellung führt. Dieser komplexe Prozeß spiegelt sich deutlich in der kyprischen Kalksteinplastik der archaischen Zeit.

Die Erforschung der kyprischen Kalksteinplastik entwickelte während des letzten Jahrhunderts ihre eigene Dynamik. Von ihrer sozialpolitischen Umgebung, von älteren Theorien über den historischen Ablauf der Ereignisse in der Antike sowie über die Kunst und Ästhetik beeinflußt, versuchten Archäologen, Alt- und Kunsthistoriker, die kyprische Plastik zu untersuchen, die Einflußsphären, die auf sie einwirkten, zu analysieren, ihren chronologischen Entwicklungsprozeß festzustellen, ihre stilistischen Charakteristika herauszukristallisieren, sie in einen der damals bedeutenden Kunstkreise der Antike einzuordnen und, wo möglich, die verschiedenen Bevölkerungsgruppierungen der Insel durch die verschiedenen Drapierungen und Haartrachten zu unterscheiden. Ihr sonderbarer Charakter und ihre Mischformen, ihre Individualität und ihr Konservatismus schufen eine Reihe von Hindernissen, führten aber auch zur Entstehung einer lebendigen, und aktiven Diskussion und einer intensiven Auseinandersetzung mit ihr, die letztendlich die kyprische Archäologie zur vollen Entfaltung brachten.

Nachdem den ersten großen Ausgrabungen auf Zypern in der 2. Hälfte des 19. Jh. reiches Materials an Skulpturen ans Tageslicht kam, versuchte man, es zu verstehen, seine Einflüsse zu bestimmen, ein chronologisches Entwicklungsschema zu entwerfen und sie in die antike Kunstgeschichte einzuordnen. Die Bearbeitung der zwei großen Sammlungen kyprischen Antiken in New York und in London von Myres und Pryce machte die Komplexität und den ausgefallenen Charakter der kyprischen Plastik deutlich. Die wissenschaftlich gut dokumentierten schwedischen Ausgrabungen auf Zypern und der Reichtum des gefundenen Materials legten die Grundlage, um endlich die kyprische Kunst und besonders die kyprische Plastik objektiv und sinnvoll zu behandeln, die unterschiedlichen Kunststile festzustellen und die fremdartigen Einflüsse zu differenzieren. Dies wurde durch Gjerstads grundlegende Publikation der gesamten Kultur (Architektur, Keramik, Plastik, Toreutik) und Geschichte Zyperns von der geometrischen bis zur spätklassischen Zeit ermöglicht. Für eine ausgiebige Behandlung der kyprischen Plastik zog Gjerstad neben dem bekannten kyprischen Material auch die Skulpturen, die außerhalb Zyperns gefunden (in Al Mina, Amrit, Naukratis, Kleinasien, Rhodos, Chios, Samos) und von den Ausgräbern als kyprisch vorgestellt worden waren, zum Vergleich heraus. Von großer Wichtigkeit waren nach Gjerstad auch die fremdartigen Einflüsse, ihre Verdeutlichung und Analyse.

Durch die Befreiung Zyperns von der britischen Kolonialherrschaft im Jahr 1960 wurden auch neue Wege in der kyprischen Archäologie eingeschlagen. Das Hauptmerkmal dieser neuen Periode war die von V. Karageorghis intensive und erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen dem kyprischen archäologischen Dienst und den ausländischen archäologischen Expeditionen eingeführt wurde. Durch neue Funde aus Zypern selbst und außerhalb der Insel erweiterte sich die Materiallage. Dadurch wurde den Forschern vermehrt die Chance geboten, den sonderbaren Charakter der Plastik und die Verwicklung der vielseitigen Einflüsse besser zu verstehen. Die 70er Jahre brachten neue Erkenntnisse in Bezug auf die kyprische Plastik. Die Versuche des archäologischen Dienstes von Zypern, die kyprische Archäologie zu internationa-lisieren, waren erfolgreich. Neue Ausgrabungen, von fremden archäologischen Expeditionen durchgeführt, brachten weiteres Material ans Tageslicht. Darüber hinaus wurde die kyprische Kunst durch eine Reihe von Ausstellungen in verschiedenen Museen der ganzen Welt und die Publikation neuer Museumskataloge einem größeren Publikum bekannt gemacht und den Forschern die Möglichkeit geboten, das Material einfacher zu untersuchen. Ein militärisches Ereignis, die Besetzung des nördlichen Teils der Insel durch türkische Soldaten im Jahre 1974, die leider bis heute an der Schwelle zum 21. Jh. andauert und das Problem der Teilung der Insel ungelöst läßt, führte jedoch zur sofortigen Beendigung aller archäologischen Aktivitäten und Unternehmungen in Nordzypern. Die wissenschaftliche Gemeinschaft reagierte auf diese Weise gegen die türkische Invasion. Seitdem haben keine Ausgrabungen fremder archäologischer Expeditionen im Nordteil stattgefunden außer Raubgrabungen, deren Funde auf dem europäischen und amerikanischen Kunstmarkt zu finden sind. Die kyprische Kalksteinplastik bleibt jedoch immer noch ein isolierter Außenseiter in der Kunstgeschichte. In den Handbüchern der letzten zwei Jahrzehnte über die archaische Plastik Griechenlands wird die kyprische Plastik entweder nicht behandelt oder nur durch kurze Verweise erwähnt, obwohl man immer wieder den starken griechischen Einfluß und den gleichen Entwicklungsprozeß zu betonen pflegt.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der archaischen Kalksteinplastik Zyperns. Sie ist so aufgebaut, daß zuerst die Forschungsgeschichte der kyprischen Plastik seit den frühesten bekannten "archäologischen Aktivitäten", der Entdeckung der ersten Kalksteinfiguren und den Ansichten der frühen Forscher über die kyprische Plastik und ihre chronologische und stilistische Entwicklung bis heutigen Forschungssicht ausführlich behandelt wird. Als nächstes wird versucht, in Kürze die Periodisierung der kyprischen Plastik und die verschiedenen Begriffe in Anlehnung an die griechische Plastik, ihre Periodisierung und Begrifflichkeit festgesetzt werden. Die zusammenfassende Auswertung datierbarer Fundkomplexe aus Samos, Rhodos, Chios sowie Vouni und der persischen Belagerungsrampe in Palaipaphos soll schließlich den zeitlichen Rahmen für die kyprische Plastik festlegen und wichtige Hilfsmittel ihrer absoluten Datierung liefern.

Die Ikonographie und Typeneinteilung der Kalksteinplastik in der archaischen Zeit bildet einen weiteren Gesichtspunkt dieser Arbeit. Da der Entwicklungsprozeß der kyprischen und griechischen Plastik ähnlich zu sein scheint, wird bei der Ikonographie und Typeneinteilung in Anschluß an die verwendeten Begriffe der griechischen Plastik ein ähnliches Schema aufgebaut. Die verschiedenen Gottheiten, männlichen und weiblichen Statuentypen, Gruppen und Tierdarstellungen werden aufgelistet, kurz behandelt, ihre Varianten beschrieben und ihre Einflüsse herauskristallisiert. Zum Schluß wird die Bekleidung der kyprischen Figuren zusammenfassend untersucht.

Der bedeutendste Aspekt dieser Arbeit ist die stilistische und chronologische Entwicklung der Plastik von ihren Anfängen bis zum Ende des 5. Jh., einschließlich der subarchaischen Periode. Die Mängel der stilistischen und chronologischen Einteilung der kyprischen Skulpturen durch Gjerstad wurden schon von früheren Forschern erkannt und kritisiert, und manche davon verlangten sogar ihre Revision. Durch neue Funde aus Zypern selbst und außerhalb der Insel erweiterte sich die Materiallage. Dadurch wurde den Forschern vermehrt die Chance geboten, den sonderbaren Charakter der Plastik und die Verwicklung der vielseitigen Einflüsse besser zu verstehen. Trotzdem hielt man an Gjerstads Chronologieschema bis Anfang der 80er Jahren fest. Durch die Publikation der Bestände des Louvre von A. Hermary und durch die Neubearbeitung der kyprischen Kalksteinskulpturen aus dem Apollon-Heiligtum in Idalion von P. Gaber-Saletan und R. Senff sowie durch den Versuch M. Brönners, die kyprische archaische Plastik anhand ausgewählter Beispiele zusammen mit der Publikation der kyprischen Bestände der Berliner Museen zu behandeln, wurde deutlich klar, daß die stilistische und chronologische Abfolge der archaischen kyprischen Plastik neu untersucht werden sollte.

Die stilistische Untersuchung stützt sich auf den Vergleich verschiedener Kalksteinskulpturen von allen kyprischen Heiligtümern sowie von Samos und Rhodos. Die Bildung bestimmter Gruppen liefert wichtige Schlüsse zu bestimmten Stil-traditionen und Werkstattfragen und weist auf die Beziehungen und Verwicklungen zwischen der verschiedenen Kunstzentren und Werkstätten hin. Die Chronologie basiert wiederum auf dem Vergleich mit gleichzeitigen griechischen Werken, synchronisiert beide Künste und bezeugt einen ähnlichen Entwicklungsprozeß. Die stilistische und chronologische Entwicklung wird schließlich von einem Katalog kyprischer Skulpturen ergänzt. Alle aufgenommenen Skulpturen des Katalogs sind publiziert und befinden sich im Metropolitan Museum in New York, im Britischen Museum in London, im Louvre in Paris und im Cyprus Museum in Nikosia. Der Katalog bildet sicherlich kein lückenloses Exemplar, da viele von den kyprischen Skulpturen nicht vollständig publiziert sind oder nicht abgebildet sind. Vielmehr war sein Ziel, zum ersten Mal eine große Zahl von kyprischen Skulpturen der archaischen Zeit zusammenzufassen. Fragmentarisch erhaltene Skulpturen (vorwiegend Körper- und Beinfragmente) sind zum Teil nicht im Katalog aufgenommen, da sie zur stilistischen und chronologischen Entwicklung unbedeutend sind.

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