MATEO - Mannheimer Texte Online


2. Linguistische Grundlagen

2.1. Varietät und Variante

Varietät ist laut Bußmann ein "neutraler Terminus für eine bestimmte kohärente Sprachform, wobei spezifische außersprachliche Kriterien varietätendefinierend eingesetzt werden können", eine geographisch definierte Varietät will sie "Dialekt" nennen (BUSSMANN 1990, 827). Letzteres greift meines Erachtens zu kurz, denn auch eine regionale Umgangssprache ist eine geographisch definierte Varietät.

Varianten sieht Bußmann vor allem phonologisch: Als "unterschiedliche Realisierungen abstrakter linguistischer Einheiten aller Beschreibungsebenen" (BUSSMANN 1990, 826). Ich möchte den Begriff allerdings hier rein lexikalisch verwenden. So sind Junge und Bub lexikalische Varianten des männlichen jungen Menschen.

2.2. Standardsprache

Für die deutsche Standardsprache existieren verschiedene Begriffe, gegen die sich Einwände finden lassen. Am Ausdruck Schriftsprache kann man bemängeln, daß die Sprache auch mündlich verwendet wird. Gegen den Begriff Standardsprache wenden sich Eßer und Jäger: Darunter könnte man sich "etwas Statisches, starr Fixiertes, ein für allemal Festliegendes vorstellen", doch das treffe ja nicht zu (ESSER 1983, 37; JÄGER 1980, 376). Eßer findet auch Einheitssprache unbefriedigend, da auf dem "Binnensektor der deutschen Sprache" keine Einheit herrsche, sondern ein "Variantengefüge". Gleichzeitig kritisiert auch das Wort Verkehrssprache, das glauben mache, daß überregionale Kommunikation auch mündlich in dieser Sprachform ablaufe. Den Begriff Literatursprache sieht er als "irreführend" an, denn es gebe auch Dialektliteratur und in der neueren Literatur auch andere Sprachformen als die Standardsprache (ESSER 1983, 34f).

Angesichts der Tatsache, daß die Linguistik inzwischen stärker mit dem Begriff Standardsprache arbeitet, soll dieser Begriff in dieser Arbeit verwendet werden. Zumal der oftmals verwendete Ausdruck Hochsprache wertend klingt und Hochdeutsch noch diejenigen Dialekte meint, die von der Zweiten Lautverschiebung erfaßt wurden. Bußmann definiert die Standardsprache als "die historisch legitimierte, überregionale, mündliche und schriftliche Sprachform der sozialen Mittel- und Oberschicht" (BUSSMANN 1990, 732). An dieser Definition muß kritisiert werden, daß unterstellt wird, alle Angehörigen der genannten Schichten gebrauchten die Standardsprache in jeder Situation. Das ist gewiß nicht der Fall.

Die deutsche Standardsprache ist das Resultat eines langen Evolutionsprozesses. Zuerst entwickelte sich eine überregionale Schreibsprache, die von Grammatikern zu normieren versucht wurde. Das Obersächsische galt lange Zeit als vorbildlich in der Aussprache, dennoch hing die Aussprache der Schriftsprache vom jeweiligen Heimatdialekt ab. 1898 legten Hochschulgermanisten und Theaterleute deutsche Aussprachenormen fest, die unter dem Titel Deutsche Bühnenaussprache veröffentlicht wurden. Als Grundregel fungierte "norddeutsche Aussprache der ‘hochdeutschen’ Schreibformen". Diese Norm ist selbst heute kaum verwirklicht, weiterhin gibt es regional unterschiedliche Aussprachevarianten (KÖNIG 1978, 110). Mattheier vermutet, daß 15 bis 20 Prozent der Deutschen nur Standardsprecher sind, solche mit regionalem Akzent und Wortschatz eingeschlossen (Mattheier 1990, 60).

Für Österreich und die Schweiz muß man eine eigene Standardvarietät annehmen, da sie "gegenüber der Standardvarietät Deutschlands einen Grad von Eigenständigkeit aufweisen, der dazu berechtigt, von besonderen ‘nationalen Varietäten’ der deutschen Sprache zu sprechen". Ammon macht dafür die politische Autonomie der beiden Staaten verantwortlich (AMMON 1994, 53f). Österreich teilt phonetische Merkmale größtenteils mit der "oberbayerischen Standardlautung", so von Polenz. Den "alten gesamtbairischen Wortschatz" zählt er zu den Regionalismen, nicht aber einen großen Teil des österreichischen Verwaltungs- und Öffentlichkeitswortschatzes - der gehört für ihn zur "staatsnationalen Varietät"(VON POLENZ 1990, 34f).

Die deutsche Standardsprache besitzt einige gleichwertige Standardvarianten wie Samstag/Sonnabend oder Fleischer/Metzger/Schlachter, die regional unterschiedlich verwendet werden. So ist im Süden Samstag und Metzger, im Norden Sonnabend und Schlachter üblich. Diese regionalen, nichtmundartlichen Varianten sind im Duden-Taschenbuch Wie sagt man anderswo? (SEIBICKE 1972) zu finden. Jahrhundertelang wurden "dezentralistische Sprachtendenzen" in durch die "territoriale Zersplitterung Deutschlands" begünstigt, es gab kein politisches und kulturelles Zentrum, das "kleinräumigen Entwicklungen nachhaltig hätte entgegenwirken können". Auch die Tatsache, daß bis in das 18. Jahrhundert hinein Latein Wissenschaftssprache und Französisch Sprache der Politik- und Kulturelite war, war der Entwicklung einer Einheitssprache hinderlich (SEIBICKE 1972, 154). Vor allem die bedeutenden Veränderungen "in der gesellschaftlichen Produktion und die Entwicklung der modernen Technik und Industrie". Neue Erwerbszweige, Herstellungsweisen und Produkte traten an die Stelle alter Handwerke. Der neue Wortschatz breitete sich ohne landschaftliche Differenzierungen aus. Die technische Sprachnormierung, der überregional ausgerichtete Handel mit seiner Werbung, die Bevölkerungsbewegungen der jüngeren Zeit und die Medien tragen dazu bei (SEIBICKE 1972, 156-158). Ob regionale Tageszeitungen noch regionalsprachliche Unterschiede aufweisen, soll unter anderem in dieser Arbeit festgestellt werden.

2.3. Umgangssprachen/Neuer Substandard/Regionalismen

Alle Varietäten und Varianten, die nicht standardsprachlich sind, kann man als Nonstandard oder, was wertend klingt, Substandard bezeichnen. Bergmann definiert Substandard als den "sprechsprachlichen Gesamtbereich unterhalb des Standards". Jedes vertikale Teilkontinuum bezeichnet er als Einzelsubstandard, horizontale Gruppen vonTeilkontinua als landschaftliche Substandards. Analog zum Begriff Umgangssprache bietet er den Terminus Neuer Substandard an (BERGMANN 1983, 124f).

Reitmajer unterscheidet dagegen eine überregionale und eine regionale Umgangssprache. Eine überregionale Umgangssprache ist im ganzen deutschen Sprachraum verständlich und dient der alltäglichen Verständigung im Gegensatz zur formellen, öffentlichen Sprechsituation, in der die Standardsprache Verwendung findet. Die Lautung der überregionalen Umgangssprache ist eher standardorientiert. Die regionale Umgangssprache ist in der Lautung zwar ebenfalls standardorientiert, beruht aber auf dem zugrundeliegenden Dialekt. Auch Melodie, Tempo und Rhythmus sind an die Mundart angelehnt, der Geltungsbereich ist eher kleinlandschaftlich (REITMAJER 1979, 43).

Eichhoff definiert Umgangssprachen als "örtlich übliche Sprachformen des täglichen Umgangs" und verweist auf unterschiedliche Vorstellungen von diesem Begriff außerhalb der Wissenschaft: Im Süden des deutschen Sprachgebiets meine man mit Umgangssprache eine "gesprochene Sprache, die sich in Lautung und Wortschatz die deutsche Standardsprache zum Vorbild nimmt". Im Norden versteht man nach Eichhoff darunter eine "etwas abschätzige Bezeichnung für jene Ausdrucksformen, auch im Bereich des Wortschatzes, die man zwar im mündlichen Gebrauch verwenden darf, für die in der geschriebenen Sprache jedoch weniger anstößige Formen vorzuziehen sind" (EICHHOFF 1977/78, 9f).

Bußmann unterscheidet nicht zwischen regionaler und überregionaler Umgangssprache, aber zwischen zwei Sprachformen, die Eichhoffs südlicher und nördlicher Sicht nahekommen. Umgangssprache ist für Bußmann "eine Art ‘Ausgleichsvarietät’ zwischen Hochsprache und Dialekt, die zwar eine deutliche regionale Färbung, jedoch keine extremen Dialektismen aufweist". Als Zweitdefinition führt sie an: "Bezeichnung einer Stilschicht (...) entspricht engl. colloquial speech" (BUSSMANN 1990, 814).

Manche Wissenschaftler vermuten, daß die regionalen Umgangssprachen an die Stelle der Mundarten treten. Reitmajer bestätigt zwar die Tendenz dieser Substitutionsentwicklung, weist aber auf die unterschiedlichen Gegebenheiten in den deutschen Sprachlandschaften hin: "Für den bairischen Sprachraum läßt diese Entwicklung nach Einschätzung der derzeitigen Lage sicher noch lange auf sich warten." (REITMAJER 1979, 46; ebenso MOSER 1981, 19) Von Polenz meint, eine gesamtdeutsche Umgangssprache werde entstehen, die möglicherweise keine regionalen Unterschiede mehr hat (VON POLENZ 1972, 132).

Unter Regionalismen möchte ich Begriffe verstehen, die zwar in in Standardsprache verfaßten Texten Verwendung finden können, deren Verbreitung aber regional begrenzt ist. Im Duden sind diese Wörter als regional markiert: landsch., bayr., pfälz. Da Samstag und Sonnabend im Duden nicht regional markiert sind , gelten sie als Standard. Im Duden als mdal. gekennzeichnete und nicht aufgeführte Begriffe sind mundartlich und keine Regionalismen.

2.4. Dialekt

2.4.1. Definition

Wie schon in den vorangehenden Kapiteln deutlich wurde, gibt es im Deutschen kein diglossisches Verhältnis zweier deutlich unterscheidbarer Varietäten, sondern eine Art Kontinuum mit den beiden Enden (Basis-) Dialekt und Standardsprache. Das Wort Dialekt hat seinen Ursprung im Altgriechischen, wo es das Miteinanderreden bezeichnete, aber auch die verschiedenen Schreibdialekte des damaligen Griechenlands meinte. Im 16. Jahrhundert wurde das Wort in die modernen europäischen Sprachen übernommen, allerdings in unterschiedlichen Bedeutungen (MATTHEIER 1983, 142-144). Im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts war die deutsche Dialektologie vor allem damit beschäftigt, die Sprachräume kartographisch zu erfassen und Wortsammlungen zu erstellen. Durch die Rezeption der angloamerikanischen Soziolinguistik in der Bundesrepublik ab Ende der sechziger Jahre trat das dialektgeographische Interesse in den Hintergrund. Jetzt thematisierte die Linguistik Dialekt als Sozialstigma, als eine Erschwernis des gesellschaftlichen Aufstiegs. Seit Mitte der siebziger Jahre versucht die Dialektologie, regionale wie soziale Parameter in ihre Theorie einzubeziehen (REINERT-SCHNEIDER 1987, 30f). Als Synonyme zu Dialekt werden auch Mundart und Regiolekt gebraucht. Den letztgenannten Begriff möchte ich nicht verwenden, da er weniger üblich ist und mit regionaler Umgangssprache verwechselt werden kann.

Eine auf den ersten Blick brauchbare Dialekt-Definition bietet Sowinski an: "Mundart ist eine stets der Schriftsprache vorangehende, örtlich gebundene, auf mündliche Realisierung bedachte und vor allem die natürlichen, alltäglichen Lebensbereiche einbeziehende Redeweise, die nach eigenen, im Verlauf der Geschichte durch nachbar-mundartliche und hochsprachliche Einflüsse entwickelten Sprachnormen von einem großen heimatgebundenen Personenkreis in bestimmten Sprechsituationen gesprochen wird." (SOWINSKI 1970, zit. nach LÖFFLER 1973, 457) Ammon kritisiert an dieser Definition, es fehle der Aspekt, "daß Dialekte auch durch nachträgliche Differenzierung aus einer Schriftsprache hervorgehen" können (AMMON 1983, 31).

Eine explizite Dialekt-Definition, so Ammon, müsse die Angabe enthalten, daß eine Mundart eine Langue mit Norm ist. Langue deshalb, weil es sich um eine Menge von Sätzen handelt, die Gegenstand einer Grammatik sind und Norm, weil linguistische Kunstgebilde ausgeschlossen werden müssen (AMMON 1983, 39). Ausgehend von den Parametern der grammatischen Ähnlichkeit (Varietizität), Kleinregionalität und Nichtstandardisiertheit erstellt er einen vorläufigen Definitionsversuch, der den Langue-Aspekt mit einschließt: "Ein Dialekt ist eine Langue derart, daß es 1. für sie mindestens eine weitere Langue mit hoher grammatischer Ähnlichkeit gibt. daß es 2. keine Langue gibt, die gebietsmäßig echt in ihr enthalten ist und daß 3. weder ihre Schreibweise noch ihre Lautung noch ihr Lexikon noch ihre Syntax amtlich normiert sind." (AMMON 1983, 64) Zahlreiche weitere Definitionen verwirft Ammon an derselben Stelle, ich verzichte daher auf die weitere Auseinandersetzung mit diesem Begriff. Es bleibt festzuhalten, daß es in der Wissenschaft noch keine einheitliche Meinung zu dem gibt, was man als Dialekt bezeichnet. Für diese Arbeit ist wichtig, ob ein in der Schriftsprache der Zeitung vorkommendes Wort als (regionaler) Standard oder (regionaler) Nonstandard zu gelten hat. Dabei greife ich neben meinen eigenen Dialektkenntnissen (Pfälzisch) auf den Duden zurück. Wörter, die dort mit mdal. bezeichnet beziehungsweise wegen der kleinräumigen Verbreitung nicht verzeichnet sind, werte ich als regionalen Nonstandard. Bei Zitaten in Artikeln ist es nicht leicht zu entscheiden, ob es sich um Dialekt oder regionale Umgangssprache handelt. Zumal nicht klar ist, wie exakt der Schreiber die Menschen zitiert.

2.4.2. Dialektverfall und Mundartwelle

Das Verhältnis Dialekte/deutsche Standardsprache hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. In dem Maße, wie sich die geschriebene Standardsprache ausbreitete, nahm der Gebrauch der Schriftdialekte ab. Während die Mundarten in früherer Zeit vor allem Regionalsprachen waren, sind sie in heutiger Zeit durch ihr Verhältnis zur Standardsprache charakterisiert: Sie sind Sub- oder Nonstandard (REINERT-SCHNEIDER 1987, 34).

Der Verfallsprozeß der Dialekte geht nach Mattheier einher mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß. Dieser besteht aus den Teilprozessen ständiges Wirtschaftswachstum, zunehmende soziostrukturelle Differenzierung, zunehmende geographische und soziale Mobilität, breitere Bildung und Kommunikationsbereiche, wachsende Teilnahme an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen und Herausbildung großräumiger Wert- und Normensysteme (MATTHEIER 1980, 146f). Heute ist der Träger der gesellschaftlichen Modernisierung die Urbanisierung, also die "Durchsetzung städtisch und kosmopolitisch orientierter Lebensformen und die damit verbundene Veränderung im gesellschaftlichen Wert- und Normensystem". Auf dem Land, so Mattheier, war bis in die dreißiger Jahre die Standardsprache aktiv nicht gebräuchlich, erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist auch der ländliche Raum urbanisiert worden. Ursachen sind sind auch im Ländlichen Verstädterung, Industrialisierung, Verkehrswegeausbau, Motorisierung, Medien sowie Berufs- und Freizeitkontakte zwischen ländlichem und städtischem Raum. Der Dialektverfallsprozeß läßt sich als ein "Übergangsphänomen bei der Durchsetzung moderner Verhaltensweisen und Lebensformen gegen traditionelle deuten". Dieser Prozeß ist in den Regionen des deutschen Sprachraums unterschiedlich weit fortgeschritten (MATTHEIER 1980, 153-155).

Mattheier unterscheidet drei Haupttypen des Verhältnisses Dialekt/Standardsprache, die sich im deutschen Sprachraum ausgebildet haben. Zu beachten sind die unterschiedlich wirkenden Faktoren Urbanisierungsgrad, historische Entwicklung, Ortsloyalität, Öffentlichkeitsgrad und Sprachlagenstruktur (Unterschiedlichkeit zwischen den Varietäten und Anzahl unterscheidbarer selbständiger Sprachlagen). Beim Typ 1 ist der Dialekt nur noch Reliktsprache, von alten Menschen gesprochen. Sein Gebrauch ist vornehmlich privat, sein Sprachwert negativ, die Sprecher sind Spott ausgesetzt. Zu finden ist dieser Typ in den städtischen Bereichen des Raumes Hannover und in anderen nieder- und mitteldeutschen Städten. Der Typ 2 ist weiter verbreitet, der Dialekt ist hier Sozialsymbol. Er ist Varietät der Unterschicht, des ländlichen Raumes und des alltäglichen Lebens. Untertyp 2a hat eine positive Bewertung als Alltagssprache, er überwiegt nach Süden hin. Untertyp 2b hingegen hat eine negative Bewertung, er überwiegt nach Norden hin. Beim Typ 3 ist der Dialekt die Hauptvarietät der gesamten Sprachgemeinschaft, er besitzt eine sehr positive Bewertung, Nichtdialektsprecher haben Integrationsprobleme. Mit zunehmender Öffentlichkeit und Formalität wird er durch (über)regionale Umgangssprachen ersetzt. Dieser Typ gilt im Süden der alten und neuen Bundesländer (MATTHEIER 1980, 165-168). Das Deutsch außerhalb Deutschlands paßt Mattheier nicht in seine Typen ein, auf diese Sprachräume wird im nächsten Kapitel ganz kurz eingegangen.

Diese Typeneinteilung bedeutet nicht, daß ein Dialektverfallsprozeß unumkehrbar wäre. Tatsächlich gibt es seit Beginn der siebziger Jahre in der Bundesrepublik ein Phänomen, das Mundartwelle genannt wird. Dialekt erscheint verstärkt in Literatur, Schlagern und Werbung. Teilweise wird das als Tendenzwende im Nonstandard-Standard-Verhältnis, teilweise als Reaktion auf zunehmende Zentralisierung und Vereinheitlichung gedeutet. Mattheier weist darauf hin, daß sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Standardsprache als Sprechsprache etablierte. Passiv und zu einem gewissen Grad auch aktiv wird sie nun von der Bevölkerung beherrscht, ihre Geltung ist unbestritten. Durch das Erreichen dieses Zustandes ist nun ein Vorgehen der führenden Institutionen der Standardsprache gegen die Mundarten nicht mehr nötig. Mattheier erachtet es als notwendig, daß das Klischee, Dialekt sei negatives Sozialsymbol, abgebaut wird, damit sich Dialekte im deutschen Sprachverwendungssystem etablieren können (MATTHEIER 1980, 171-173).

Greule sieht in der Dialektverwendung in Standardsprachdomänen kein Indiz für den Erhalt der Basisdialekte. Mundartliches in den Medien verstärke vielmehr die Tendenz zur Dialektnivellierung (GREULE 1989, 423). Mattheier kommt zu einem ähnlichen Schluß: Die Dialektrenaissance meine eigentlich den "Ausbau und die Stabilisierung des neuen regionalen Substandards", nicht die Rückkehr zum ursprünglichen Basisdialekt (MATTHEIER 1990, 79). Hartig sieht den Revitalisierungsprozeß der Mundarten als "ein kurzes Verzögern des Sprachtods der Dialekte". Regionale Sprachformen sind seiner Meinung nach im Abnehmen, soziale Sprachformen im Zunehmen begriffen. Im Gegensatz zu den Umgangssprachen, die dialektal beeinflußt werden, würden Dialekte "kaum noch tatsächlich gesprochen" (HARTIG 1990, 126-128). Dem letzten Befund muß ich widersprechen, er mag vielleicht für den Norden des deutschen Sprachgebiets gelten, für den Süden aber gewiß nicht - wie das folgende Kapitel beweist.

2.4.2. Dialektvitalität in regionaler Hinsicht

Dialektkenntnis und -gebrauch unterscheiden sich von Region zu Region. Die Dialektkenntnis ist im Saaland (76,7%) und Rheinland-Pfalz (76%) am höchsten, recht hoch auch noch in Bayern (71%), Schleswig-Holstein (64,7) und Hessen (63,5%). Diese Angaben beruhen auf Selbsteinschätzungen der Sprecher. Weil Dialekt nicht definiert vorgegeben wurde, muß die Ansicht der Befragten nicht mit der des Forschers identisch sein. Der Anteil der Dialektsprecher, die sich zu Hause und am Arbeitsplatz ihrer Mundart bedienen, ist im Süden wesentlich höher als im Norden, wobei nur Zahlen für die alten Bundesländer zur Verfügung stehen. Den höchsten Wert für Mundartgebrauch am Arbeitsplatz hat Bayern (61,3%) und Baden-Württemberg (60,2%), zu Hause wird im Saarland, Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg am meisten Dialekt gesprochen, die Werte liegen zwischen 92 und 96 Prozent (LÖFFLER 1985, 146; siehe Tabelle 1 im Anhang).

Im niederdeutschen Sprachgebiet ist nach Schuppenhauer/Werlen "heute von einer allgegenwärtigen Dominanz der Standardsprache und ihrer umgangssprachlichen Varietäten auszugehen". Da sich die niederdeutschen Dialekte stärker von der Standardsprache unterscheiden als die mittel- und oberdeutschen, muß sich der Sprachbenutzer für eine der beiden Alternativen Dialekt/Standardsprache entscheiden. Die während des Verdrängungsprozesses gültigen Gleichungen Niederdeutsch = soziales Unten und Standardsprache = soziales Oben sind inzwischen geschwunden, weil die Gesellschaft nicht mehr derart polarisiert ist. Niederdeutsch wird in kleinräumig orientierten, nichtöffentlichen und informellen Situationen benutzt (SCHUPPENHAUER/WERLEN 1983, 1412-1415).

Auch für den Süden Deutschlands gilt, daß "Domänen mit öffentlichem Charakter und weitreichendem Kommunikationsradius wie Massenmedien, Politik, Kirche" die Standardsprache "als weitgehend einzig sozial akzeptable Form betrachtet" wird. Immerhin gestehen Schuppenhauer/Werlen, daß auch innerhalb der Standarddomänen Dialekt gezielt verwendet werden kann. Zahlreiche Übergangsformen zwischen Mundart und Standardsprache ermöglichen dem Sprecher, zwischen verschiedenen Stufen zu wechseln. Vor allem in Bayern, Schwaben und Baden ist der Standard stärker regional geprägt. Es existieren soziale Situationen, in denen nur die Mundart als Sprechweise akzeptabel ist. Ältere benutzen mehr Dialekt als Jüngere, sozial niedriger Stehende mehr als höher Stehende, Landbewohner mehr als Städter und manuell Tätige mehr als geistig Tätige (SCHUPPENHAUER/WERLEN 1983, 1420f).

In Österreich gilt ähnlich wie in Süddeutschland ein Kontinuumsmodell. Die Standardvarietät ist "regional bestimmt, stark beeinflußt von den Normen der Wiener Stadtsprache", befinden Schuppenhauer/Werlen. Offizielle Situationen (Medien, Schule, Kirche, Politik) verlangen wie in Deutschland die Standardvarietät. Dialekt wird als informell, privat, situational und regional beschrieben, andererseits wird er in Österreich auch in Situationen benutzt, in denen in Deutschland Standard gefordert wäre, etwa bei Gerichtsverhandlungen. In der Schweiz ist Dialektverwendung noch weiter verbreitet. Eine im Vergleich zu den sechziger Jahren deutliche Ausweitung des Mundartgebrauchs in offiziellen Situationen (Medien, Schule, Werbung, Kleinanzeigen) hat ihre Wurzeln vermutlich in einer Verstärkung regionalistischer Tendenzen und einer zunehmenden "Tendenz zur Informalisierung des öffentlichen Lebens". Schuppenhauer/Werlen vermuten, daß der mündliche Gebrauch der Standardvarietät "sich auf einige wenige sehr offizielle und teilweise rituelle Gelegenheiten" beschränken wird. Einige Wissenschaftler sprechen von einer diglossischen Situation: auf der einen Seite die Standardvarietät, auf der anderen die kleinräumigen, aber gegenseitig verständlichen Dialekte. Der Standard, vor allem der Deutschlands, genießt kein sehr hohes Ansehen, vielmehr ist Mundart Statussymbol (SCHUPPENHAUER/WERLEN 1983, 1422f).

Während sich in Luxemburg und Südtirol der Dialekt behauptet, ist der Zurückdrängungsprozeß im Elsaß und besonders in Lothringen, zugunsten des Französischen, weiter fortgeschritten (MATTHEIER 1980, 169f). Über die Situation in den Verbreitungsgebieten der in dieser Arbeit zu untersuchenden Zeitungen wird an späterer Stelle ausführlicher eingegangen.

2.5. Sprachbewertungen

2.5.1. Einstellungen gegenüber Sprachen

Theorien über Sprachbewertungen greifen vor allem auf die (Sozial)psychologie zurück. Bei der soziologischen Rollentheorie verteilen sich die Individuen auf gleichzeitig mehrere, wechselbare Rollen in einem Netzwerk von Sozialpositionen. Mit den sozialen Rollen werden Verhaltensweisen und Einstellungen, also auch Sprachbewertungen, übernommen. Bei dieser Theorie wird berücksichtigt, wie Einstellungen weitergegeben werden. Erst die Soziolinguistik vermag zu erklären, warum sich Sprachbewertungen herausbilden und warum sie sich wie verändern. Es gilt zu beachten, daß es soziale und kulturelle Unterschiede zwischen Sprachgebieten geben kann. Die soziale Verteilung und die situationsspezifische Anwendung einer Sprachform sind von Bedeutung bei der Beobachtung des Phänomens Sprachbewertung. Eine Sprachform wird nach dem sozialen Status ihrer Sprecher beurteilt (AMMON 1983, 1502-1504).

In sämtlichen Beziehungen zwischen Menschen geht es darum, geschätzt zu werden. Wert- und Geringschätzung sind das Ergebnis von Charismatisierungs- und Stigmtisierungsprozessen, die zu Prestige, also Ansehen, oder Stigma, also fehlender Akzeptanz aufgrund negativer Unterscheidung, führen. Begriffe, die im Zusammenhang mit Stigma häufig fallen, sind Stereotyp und Vorurteil. Ein Stereotyp entspringt wie Stigma der Neigung zur Kategorisierung zwecks besserer Orientierung. Das Stereotyp bezieht sich auf Generalisierungen über eine Gruppe Menschen, die nicht negativ sein müssen. Ein Stigma-Merkmal kann beispielsweise eine äußerliche Entstellung oder ein Charakterfehler sein. Beim Vorurteil geht es ebenfalls um Gruppen statt um einzelne Personen und es geht nicht um eine wirklichtkeitsnahe Orientierung. Stigmata gelten als Produkte der Gesellschaft, der Stigmatisierte hat Schamgefühle und flieht in passive Bewältigungsstrategien wie Geheimhaltung oder Selbstmitleid (STRASSER 1987, 142-144).

In der Linguistik wird sowohl von den Begriffen Prestige/Stigma, als auch vom Begriff Stereotyp gebrauch gemacht. Quasthoff definiert Stereotyp als verbalen "Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form eines Urteils, das in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht" (QUASTHOFF 1973, 28).

Man unterscheidet vier Formen von Stereotypen. Beim Heterostereotyp beurteilt eine Gruppe eine andere (z.B. Bayern beurteilen Sachsen). Beim Autostereotyp beurteilt sich eine Gruppe selbst. Beim vermuteten Heterostereotyp vermutet eine Gruppe, wie sie von einer anderen gesehen wird (z.B. wie die Sachsen meinen, daß sie die Bayern beurteilen). Beim vermuteten Autostereotyp wird gemutmaßt, wie sich eine andere Gruppe selbst sieht. Stereotype dienen der Anpassung an eine Gruppenmeinung, der Distanzierung von anderen Gruppen, der vereinfachten Orientierung, der Selbstdarstellung und der Selbstbehauptung (HUNDT 1992, 6-8).

Mattheier befindet, daß nur selten die eigene Varietät abgewertet wird. Direkt benachbarte Sprachformen werden oft schlechter bewertet als solche, die weiter entfernt sind (MATTHEIER 1990, 75). Die Bewertung der Mundart ist nach Mattheier positiver geworden, und zwar bei Dialektbenutzern wie Standardsprechern (MATTHEIER 1990, 78).

2.5.2. Einstellungen von Dialektsprechern

Da die Dialekte historisch gesehen die ursprünglichen Sprachformen sind, soll zuerst betrachtet werden, wie Dialektsprecher ihre eigene Varietät, ihre Nachbarmundarten und die deutsche Standardsprache beurteilen. Nach Görlach werden deutsche Mundarten von ihren Benutzern als "ausdrducksvoll, brauchbar, unabhängig und nicht als minderwertig angesehen". Beim Erp-Projekt wurde festgestellt, daß der "typische Mundartsprecher" zwar im wesentlichen negative Erfahrungen mit seinem Dialekt macht, ihn jedoch positiv bewertet (HUFSCHMIDT 1983, 58). Diejenigen, die im rheinländischen Ort Erp Dialekt als positiv beurteilen, tun dies mit wenig Engagement und distanziert (HUFSCHMIDT 1983, 26). Vereinzelt finden sich beim Erp-Projekt Meinungen, die auf ein geringeres Selbstbewußtsein der Dialektsprecher schließen lassen (HUFSCHMIDT 1983, 36). Aber auch Meinungen, die auf ein sprachliches Selbstbewußtsein zumindest in familiären und lokalen Situationen schließen lassen, sind zu finden (HUFSCHMIDT 1983, 23). Daß die Bayern, Pfälzer und Vogtländer ihre Dialekte positiv bewerten, soll hier schon festgehalten werden, in späteren Kapiteln ist von diesen Regionen und ihren Dialekten noch ausführlicher die Rede.

Für den kleinräumigen Sprachbereich stellt Maurer fest, daß sich Mundartsprecher eines Ortes dem Nachbarort als "ebenbürtig und gleichberechtigt" fühlen. Weicht der Nachbarort in Sprache oder Sitte ab, so hat er das Lächerliche, nicht etwa das Bessere. Sprachliche Abweichungen werden registriert und häufig verspottet - Ortsneckereien entstehen (MAURER 1964, 30f). Im Gegensatz dazu steht das Vehältnis eines Ortes zur großen Nachbarstadt: die städtische Sprachform genießt Vorbildfunktion, wie auch die städtische Lebensform. Die von der Stadt ausgehenden standardsprachlichen Domänen wie Schule oder Verwaltung bleiben auch nicht ohne Einfluß auf die Einstellung der Landbewohner (MATTHEIER 1980, 151-153).

Sprecher, die die Varietäten Standard und Dialekt gleichzeitig beherrschen, sich aber bewußt für Mundart entscheiden, begründen dies mit Normenfreiheit, der Identitätsstiftung des Dialektes sowie als Protestmittel gegen Bürokratisierung und Nivellierungstendenzen. Henn-Memmesheimer merkt korrekterweise an, daß auch Dialekte ihre innersprachlichen Normen haben. Sie unterstellt dem "mehrsprachigen" Personenkreis Herablassungsstrategie, um sprachlich gewandt und sozial souverän zu erscheinen (HENN-MEMMESHEIMER 1989, 43-45).

Das sprachliche Selbstbewußtsein der Dialektbenutzer ist nach Moser im Rückgang. Dies gelte im 20. Jahrhundert nicht mehr nur für den niederdeutschen Raum, sondern auch für die "Mitte und den Süden Deutschlands". Je nach Region, Alter, soziale Position, Beruf und anderer Varablen ist dies unterschiedlich. Die spachkonservativste Einstellung gebe es im bairischen Sprachgebiet (MOSER 1981, 18f).

Nach der Eigenwert-Hypothese gilt die Standardsprache als"schöner" aufgrund von Kriterien, die objektiv nachweisbar sind. Die Normdekret-Hypothese besagt dagegen, daß die Standardsprache von der gesellschaftlichen Elite gesprochen wird und daher als die wesentliche Prestigeform anerkannt ist, also als Norm dekretiert wird (HUNDT 1992, 11). Daß die Standardsprache bei Dialektsprechern nicht unbedingt positiv angesehen ist, zeigt beispielsweise das Erp-Projekt. Mundartsprecher müssen mit zugezogenen Standardsprechern von ihrer angestammten Sprachform abweichen. Um das durch die Mundart vermittelte Zusammengehörigkeitsgefühl nicht zu zerstören, empfehlen manche Erper Dialektsprecher den Neubürgern, die örtliche Mundart zu erlernen. Vereinzelt werden Standardsprecher gar als "Eingebildete", "Spinner", "Hochstapler" oder "Verrückte" bezeichnet. Stärkste Ablehnung erfahren ehemalige Dialektsprecher, die jetzt Standard sprechen (HUFSCHMIDT 1983, 21f).

Ähnliches wird auch aus der Pfalz berichtet. Über Standardsprecher heißt es von manchen Dialektspechern etwa: "Die spinnen, wollen was Besseres sein" (FRANK-CYRUS 1991, 10). Reinert-Schneider hat negative Bewertungen der Standardsprache aufgelistet, allerdings ohne zu verdeutlichen, von welchem Sprachbenutzerkreis diese stammen. So gilt die Standardsprache als vornehm, artifiziell und als ein Herrschaftsinstrument (REINERT-SCHNEIDER 1987, 7).

Ris sieht den Unterschied zwischen Deutschen und Schweizern: Während der Schweizer stolz auf seine Mundart sei, schäme sich der Deutsche seines Dialektes und "befürchtet ständig, bei einer inkorrekten, mundartlichen Form ertappt zu werden". In Süddeutschland, konstatiert Ris, "gilt regionalsprachliche Markierung immer noch als Zeichen nicht nur der Eingesessenen, sondern auch desjenigen, der es zu etwas gebracht hat und der es sich leisten kann, gegen die Anpassungsnormen der etwas weniger Erfolgreichen zu verstoßen" (RIS 1978, 110f).

2.5.3. Soziolektale Bewertung von Dialekten

Man kann unterscheiden zwischen der Bewertung einer örtlichen Varietät und der Bewertung einer fremden Varietät. Von interregionaler Bewertung wird im Kapitel 2.5.4. die Rede sein. Die örtliche Varietät (intraregionale Bewertung) kann positiv oder negativ angesehen sein, Steinig spricht von Prestige-Soziolekt und Stigma-Soziolekt (STEINIG 1980, 106). Er unterstreicht die gesellschaftliche Stellung der Sprachbenutzer bei der Bewertung ihrer Varietät: "Ein Sprecher der oberen Mittelschicht wird das Sprachverhalten eines Sprechers der unteren Unterschicht eher negativ bewerten und sozial negativ sanktionieren als es umgekehrt anzunehmen ist." Die Bewertung wird rein an unterschiedlichen sozialen Positionen festgemacht (STEINIG 1976, 13-16). Nachdem käufliche Statussymbole heutzutage eine Einordnung auf der gesellschaftlichen Leiter nur noch bedingt ermöglichen, wird die Sprechweise zum Bewertungsfaktor (STEINIG 1980, 111).

Eine Einflußgröße in bezug auf das Entstehen eines Soziolektes ist die Bevölkerungsverdichtung. Höhere Komnmunikationsdichte ermöglicht den Varietätenvergleich, stadtgeographische Verteilung die Abtrennung gesellschaftlicher Gruppen. Steinig ist der Meinung, daß in Westdeutschland "die dialektale Prägung mehr und mehr durch eine soziolektale Prägung abgelöst wird". Die Dialekte befinden sich in einem schnellen Prozeß der Auflösung, Mischvarietäten (Umgangssprachen) entstehen, welche soziolektalen Charakter haben. Im städtischen Umland und in Industriegebieten ist nach Steinig der Soziolektcharakter von Sprachformen besonders ausgeprägt (STEINIG 1976, 22f).

Während alte Ortsdialekte durchaus als privilegierte Soziolekte gelten können, sind neuere Mischvarietäten, die durch zugezogene Arbeiter entstanden, stigmatisiert. Man denke nur an Gastarbeitersprachen. Eine "schlampige Sprache", so Steinig, meint nicht die Sprechweise, sondern die Benutzer der Sprechweise, die aufgrund ihrer sozialen Position oder ihrer Arbeit so bezeichnet werden (STEINIG 1976, 24f).

Ammon widerspricht wissenschaftlichen Meinungen, daß negative Dialektbewertungen gegenüber der Standardsprache unbegründet seien. Schließlich sei die Reichweite und der Ausbau geringer und demzufolge die "soziale Verteilung und situative Funktionalität" anders als die der Standardsprache (AMMON 1983, 1504).

Trotzt "Mundartwelle" gibt es also nach wie vor negative Bewertungen von Dialekten, sowohl von Standardsprechern als auch von Pädagogen und Wissenschaftlern. Standardsprecher können sich kaum von ihren positiven Vorurteilen gegenüber Standardsprechern und negativen Vorurteilen gegenüber Mundartsprechern lösen (SCHMID 1973, 131). Pädagogen sprechen sich gegen den Dialekt aus, weil er soziale Emanzipation erschwere und plädieren für Abschaffung der Mundarten (RIS 1978, 95). Auch Wissenschaftler wie der Dialektologe Ulrich Ammon erwünschen sich ein Absterben der Dialekte (VOSS 1981, 32f). Die Diskriminierung von Dialektsprechern war sogar schon Kongreßthema. Hier wurde konstatiert, daß sie in "vielen gesellschaftlichen Bereichen benachteiligt, oft gar diskriminiert werden". Und: Dem reinen Dialektsprecher sind manche soziale Positionen und Bereiche nicht zugänglich (VOSS 1981, 31).

Schmid weist darauf hin, daß "Urteile, die auf dialektalen Färbungen beruhen, wenn überhaupt, mit äußerster Vorsicht zu betrachten sind; auf einzelne Personen bezogen (...) möglicherweise schlichtweg falsch." (SCHMID 1973, 121) Er zitiert Interview-Ergebnisse, die zeigen, daß in München Mundart höher bewertet wird als die Standardsprache, während in Berlin (West) und Hamburg Standardsprache höher bewertet wird als die lokalen Varietäten (SCHMID 1973, 130). Auch Eßer weist darauf hin, daß im Norden und Westen regionale Varietäten schlechter beurteilt werden als im Süden Deutschlands (ESSER 1983, 47). Hundt hingegen stellt folgendes fest: "Das Nord-Süd-Gefälle im Dialektgebrauch setzt sich nicht in den Dialektbewertungen fort (HUNDT 1992, 74). Für Mattheier ist Mundart in den nördlichen und mittleren Regionen und in "eher städtisch/mittelschichtlichen Gesellschaftskreisen mit einem ausgeprägten Stigmacharakter ausgestattet". Dennoch wird auch hier dem Dialekt nicht die Daseinsberechtigung im Privaten abgesprochen (MATTHEIER 1990, 75).

2.5.4. Interregionale Bewertung von Dialekten

Steinig befindet, daß ein "Politiker aus Bayern oder der Pfalz in seinem Dialekt sprechen kann, ohne einen Prestigeverlust fürchten zu müssen,ein Politiker aus Sachsen oder aus dem Ruhrgebiet sich dagegen leicht lächerlich machen kann, wenn er sich in seinem Dialekt äußert." (STEINIG 1980, 140; in bezug auf die Pfalz kommt HUNDT zu einem anderen Ergebnis, siehe unten) Abgesehen von der zweifelhaften Einordnung der Varietäten der Regionen Sachsen und Ruhrgebiet als Dialekte, ist tatsächlich festzustellen, daß kaum jemand bayerische Politiker wegen ihrer Aussprache kritisiert und diese wiederum scheinbar kein Interesse haben, ihre regionale Aussprache zu verleugnen. Gerade die Varietäten der Regionen Sachsen und Ruhrgebiet sind Beispiele für stigmatisierte Sprachformen, die mit der früh beginnenden Industriellen Revolution und Bevölkerungsverdichtung zu tun haben. Zahlreiche Menschen aus ganz unterschiedllichen Regionen zogen einst in diese Industriegebiete, eine "industrielle Mischsprache" entstand, die zum Soziolekt wurde. Diese Varietäten "bekamen einen überregionalen stigmatisierenden Charakter", meint Steinig (STEINIG 1980, 114). Möglicherweise ist die Abwertung der Varietät zurückzuführen auf den Neid weniger industrialisierter Gebiete (SCHMID 1973, 124). Ris geht davon aus, daß auf ethnische Gruppen (wozu er auch die deutschen Stämme zählt) bezogene Stereotypen nicht ohne Einfluß auf das Sprachverhalten zwischen ihnen bleiben (RIS 1978, 100).

Hundt untersuchte die interregionalen Einstellungen zu hamburgisch, pfälzisch, schwäbisch und bairisch gefärbter Standardsprache. Während "Hamburgisch" positiv bewertet wird, ist das "Pfälzische" schlecht angesehen. "Schwäbisch" und "Bairisch" nehmen eine Mittelstellung ein. Immerhin wurden von manchen Befragten konkrete Dialektmerkmale zur Begründung herangezogen, größtenteils wurden Merkmale nur genannt, es war also nicht festzustellen, wie der einzelne sie bewertet. Außerdem tauchten Sprachmerkmale auf, die in der Sprechprobe gar nicht zu hören waren. Bei den Probanden war Stereotyppotential, schließt Hundt aus den wenigen Begründungen. Die Bezugsgruppen aus denselben vier Regionen zeigten sich dem Hamburgischen gegenüber als tolerant, vermutlich wurde es als Standardsprache verstanden. Pfälzisch hingegen ist stigmatisiert, wird "bei Personen des öffentlichen Lebens nicht akzeptiert" (HUNDT 1992, 64-67).

Aus der Feststellung, daß ein pfälzischer Politiker eher mit Sanktionen rechnen muß (HUNDT 1992, 78), schließt der Wissenschaftler , daß es nicht dasselbe ist, wenn zwei Politiker dasselbe sagen. Unterschiedliche Sprachformen führen zu verschiedener Überzeugungskraft (HUNDT 1992, 72). Diese Heterostereotype rühren für Hundt aus der großräumigen Verbreitung durch Medien und haben nichts mit konkreten Erfahrungen mit den Mundartsprechern zu tun (HUNDT 1992, 74). Je näher eine Sprachform sich an der Standardlautung orientiert, desto positiver wurde sie beurteilt. Pfälzisch weicht am stärksten ab, daher und wegen tradierter außersprachlicher Stereotypen, erhielt es in der Untersuchung Hundts geringe Sympathiewerte (HUNDT 1992, 77). Näheres zu Sächsisch, Pfälzisch und Bairisch in späteren Kapiteln.

Auch Löffler hält soziale Stereotypen, die kultur-und territorialhistorisch begründet sind, für die Dialektbewertungen als ursächlich. Ein Laie kann namlich keine linguistischen Kriterien heranziehen, zudem fehlen ihm dialektgeographische Kenntnisse. Löffler verweist auf die populäre Literatur und deren Vermittler Hörfunk und Fernsehen als Quellen des ungenauen "Wissens" (zit. nach JAKOB 1992, 169f).

Eine Umfrage aus den frühen sechziger Jahren (zit. nach JAKOB 1992, 167) über die interregionale Beliebtheit städtischer Varietäten ergab folgende Positivwerte:

1. Wien 19%
2. Hamburg 18%
3. Köln 16%
4. München 15%
5. Berlin 13%
6. Stuttgart 9%
7. Frankfurt 8%
8. Leipzig 2%

Bei dieser Umfrage eines Instituts für Werbepsychologie fehlte die Schweiz. Bei einer Umfrage bei Schwarzwälder Lehrern (LÖFFLER 1985, 157f) war sie dabei. Als beliebteste Dialekte wurden genannt:

1. München 25%
2. Stuttgart 20%
3. Freiburg 15%
4. jeder Dialekt 8%
5. Zürich 4%
6. Berlin 3%
7. Hamburg 2%
8. Leipzig 0%

Gleichzeitig wurde noch einmal nach dem unbeliebtesten Dialekt gefragt:

1. Leipzig 27%
2. Frankfurt 6%
2. Hamburg 6%
4. Stuttgart 5%
4. München 5%
6. Köln 4%
7. Zürich 3%
8. Berlin 2%

Grundsätzlich gilt es, solche Beliebtheitslisten vorsichtig zu betrachten. Vor allem bei der ersten Umfrage ist davon auszugehen,daß stärker stereotypisiert wird und keinerlei linguistische oder Kenntnisse über die verschiedenen Dialekte bestehen. Bei Lehrern, also Studierten, könnte die Bewertung, aufgrund von etwas mehr Kenntnissen und weniger Stereotypenanfälligkeit aufgrund ihrer Bildung, vielleicht etwas begründeter sein. Allerdings muß angemerkt werden, daß nicht jeder der erwähnten Stadtsprachen einen Dialekt hat. Die erst Liste zeigt Hamburg auf dem zweiten Platz, die Bewertenden gehen vermutlich von einer standardnahen Aussprache aus. Bei den Schwarzwälder Lehrern versteht es sich von selbst, daß die Dialekte der Region gut wegkommen: Stuttgart und Freiburg liegen ziemlich an der Spitze. Festgehalten werden kann jedenfalls, daß Leipzig (also Sächsisch) und auch Frankfurt (Hessisch) überall recht negativ bewertet sind. Das Bairische (München/Wien) ist in beiden Umfragen relativ positiv bewertet.

2.6. Sprache und Identität

2.6.1. Identität und Heimat

Wie bei vielen anderen Begriffen in den Geisteswissenschaften besteht auch beim Begriff Identität keine einheitliche Meinung/Definition. In der Philosophie ist Identität "ein Prädikat, das dem einzelnen zukommt und erlaubt, es von anderen gleicher Art zu unterscheiden und wiederzuerkennen" (KRAPPMANN 1987, 132). In der Sozialpsychologie ist Identiät "eine ungerichtete Qualität des Teilnehmers an sozialen Handlungsprozessen, die erworben und mit anderen ausgehandelt wird, die man erstrebt oder die gegenseitig abverlangt wird, die erfolgreich behauptet oder zerstört werden kann" (KRAPPMANN 1987, 132). Strittig ist die Frage, ob Identität zum relativ stabilen Besitz eines Menschen wird.

Eßers soziologischer Identitätsbegriff führt uns weiter: "Als Organisationsinstanz der spezifischen Erfahrungskombination einer jeden Biographie stellt die Ich-Identität das Zentrum eines Gefüges von Dispositionen dar, die sich als Resultat eines von Erbanlagen, Umweltfaktoren und personlichem Schicksal determinierten Sozialisationsprozesses herausbilden." Eßer verweist darauf, daß die individuelle Identität wegen ihrer Komplexität und ihres prozessualen Charakters nicht komplett analysierbar ist (ESSER 1983, 106f).

Individuum und Gesellschaft sind nach Meister aufeinander angewiesen. Der einzelne braucht die Gemeinschaft zur Bedürfnisbefriedigung, die Gesellschaft braucht die einzelnen zur Wahrung der Existenzfähigkeit (MEISTER 1984, 79). Zwecks Integration in die Gesellschaft muß der einzelne "seine Sprache, seine kognitiven Strukturen und Denkmuster denen seiner Umwelt anpassen, er muß kulturspezifisch bedingte emotionale Reaktionen (Gefühle) ausbilden, und die Bereitschaft entwickeln, die Regeln der Gesellschaft zu beachten" (MEISTER 1984, 72f).

Als Identitätsfelder für Kollektive und Individuen kommen lokale, regionale, nationale und internationale Ebenen in Frage, weil sie Mitglieder und Akteure dieser Ebenen sind. "In jedem Individuum und in jeder sozialen Gruppe können daher verschiedene Raum- als Identifikationsebenen miteinander konkurrieren (MEIER-DALLACH 1980, 302). Für Meier-Dallach ist die räumliche Identität zumeist Ergebnis "nichträumlicher kollektiver Identitäten, seien sie sozialer, politischer, personaler oder zeitlicher Prägung", die moderne Gesellschaft mit ihrer Mobilität verselbständige die räumliche Identität gegenüber den anderen Identitätsquellen (MEIER-DALLACH 1980, 303). Kulturelle Unterschiede zwischen Regionen produzieren "Gefühle, Stimmungen und Bewußtsein der Besonderheit, Singularität und Partikularität der eigenen gegenüber anderen Regionen. Regionale Identität erklärt sich also aus dem Mechanismus des durch kulturelle Varietät erzeugten Bewußtseins regionaler Besonderheit." (MEIER-DALLACH 1980, 304) Vor allem durch strukturelle Disparität bedingtes Diskriminierungsbewußtsein erzeugt oder verstärkt regionale Identität. Die schon erwähnte Modernisierungstheorie befindet, daß durch die Verbreitung "moderner Werte" die kulturellen Unterschiede abnehmen. Daraus kann man den Abbau von lokalen und regionalen Identitäten folgern (MEIER-DALLACH 1980, 304). Aber auch die gegenteilige Meinung gibt es: Die Menschen entwickeln eine regionale Identität, um allgemeiner kultureller "Einebnung" (MEISTER 1984, 134) und der "Heimatzerstörung" (BAUSINGER 1983, 215) entgegenzuwirken. Auch die zunehmende Komplexität der Gesellschaft läßt den einzelnen sich regional orientieren (MEISTER 1984, 112).

Man kann verschiedene Formen regionalistischer Identität unterscheiden, wobei für Regionen in Deutschland nur die unterste Stufe, der diffuse Regionalismus, in Frage käme. Hierbei handelt es sich um eine Identitätsform, die "gefühlsmäßige Reaktionen in bezug auf die Region" bewirkt. Beispiele für solche Reaktionen: "symbolische Ortsbezogenheit, Heimatgefühle, Gefühle der Zurücksetzung und Minderwertigkeit oder des Stolzes und der Überlegenheit." (MEIER-DALLACH 1980, 306)

Bausinger verknüpft die Begriffe Heimat und Identität: Auf den einzelnen bezogen ist Identität der "Zustand, in dem er seiner selbst gewiß ist, in dem er gelebtes Leben - Vergangenheit - tätig an die Zukunft zu knüpfen vermag, in dem er von den andern, von der Bezugsgruppe oder den Bezugsgruppen voll akzeptiert ist. Im übertragenen Sinne hat er dann Heimat." Die Heimat sieht der Kulturwissenschaftler als Basis, ja sogar als das "Wesen der Identität" (BAUSINGER 1980, 9). Aber Heimat ist auch ein "vages, verschieden besetzbares Symbol für intakte Beziehungen. Das mag ausgedrückt werden in Lanschaft oder Dialekt, in Tracht oder Lied, immer geht es um die Beziehungen zu Menschen und Dingen." (BAUSINGER 1980, 19) Für die Heimatsicht der Gegenwart spricht neben der schon erwähnten Abwehr nivellierender Tendenzen von außen und der Gegenwart zu Fremdheit/Entfremdung auch die übergeordnete Ebene zum Sozialleben in kleinen Gruppen wie der Familie (BAUSINGER 1980, 20f).

Buchwald verbindet den sozialen mit dem räumlichen Heimataspekt: "Heimat ist die menschliche wie landschaftliche Umwelt, an die wir uns rational wie emotional gebunden fühlen, die Identität gibt" (BUCHWALD 1983, 225). Die Attraktivität der Heimat erklärt Roth mit mehreren Gründen. Erstens hat das Wort Heimat mehr Gefühl/Wärme als Region oder kulturelle Identität. Zweitens ist es gerade die Diffusität des Wortes, die vieles integriert. Drittens ist Heimat Projektionsfläche von Geborgenheitsgefühlen und Aufgehobensein des einzelnen in einem Kollektiv. Viertens verspricht Heimat eine ruhebietende Gegenwelt und fünftens bietet Heimat Solidarität und Basisdemokratie, Partizipation von unten (ROTH 1993, 84).

Für die Identitätsausbildung und Bedürfnisbefriedigung sind kulturelle Identität der Gemeinschaft und die heimatliche Lebenswelt als Raum, der Identität stiftet, nötig (DÜRRMANN 1994, 135). In einer Untersuchung von Schneider in den achtziger Jahren zeigte sich, daß die emotional-kulturelle Bindung an die Heimat für wesentlich gehalten wird: 98 Prozent der Befragten verbanden Heimat mit dem Aufwachsen in einer Landschaft und der kulturellen Verbindung an diesen Raum (beispielsweise Dialektgebrauch). Daneben treten die sozialen Bindungen als wesentliches Element des Verständnisses von Heimat zurück: 72 Prozent der Befragten hielten gewachsene soziale Beziehungen für eine Grundlage des Heimatverständnisses. Nur für eine Minderheit (12 Prozent) ist Heimat "eine Sache der aktiven Aneignung als Gestaltung einer gemeinsamen Lebenswelt." (Roth 1993, 83)

2.6.2. Sprache und Identität

Sprachliche Sozialisation findet zuerst in der Familie statt. Der Sprecher wird damit in die Tradition integriert und die Kontinuität der Sprache wird gesichert (ESSER 1983, 113, Fußnote 1). Personale Identität bildet sich heraus in einem Interaktionsprozeß zwischen Gesellschaft und der Person. Die Integration "in einen bestimmten sozialkulturellen Kontext" kann nur mit Hilfe des intersubjektiven Symbolsystems der Sprache gelingen", ist sich Eßer sicher (ESSER 1983, 113-115).

Nähert man sich dem Verhältnis Sprache/Identität als ein Problem von Individuen, so kann man Sprache als Eigentum eines Menschen sehen, ebenso wie die Identität. Nimmt man es als ein Problem sozialer Rollenverteilung, so kann man es als "process of negotiation or definition of situated social reality" (HELLER 1987, 780) sehen. Sprache ist nicht nur kulturdefinierend und -herstellend, sondern umgekehrt auch Symbol einer bestimmten Kultur und damit Grundlage einer sozialen Identität (HELLER 1987, 783). Sprache schafft und erhält Volkszugehörigkeit und soziale Identität, so argumentieren auch Gumperz/Gumperz (GUMPERZ 1982, 7).

Kontakte mit anderen Sprachen können zu erhöhtem Bewußtsein und Stolz auf den sprachlichen Unterschied führen. Geringe semantische Unterschiede dienen schon als Merkmal der Gruppenkennzeichnung (MILROY 1982, 207f). Dies gilt auch, wenn eine Varietät ein geringes Prestige besitzt: Die Sprachform bleibt identitätskennzeichnend (MILROY 1982, 211). Sprecher können eine Gruppe entwickeln, die sprachlichem und sozialem Druck von außerhalb widersteht. Milry betont, daß Sprachen nicht nur der Statusmarkierung dienen, sondern auch gruppeninterne Solidarität erhalten (MILROY 1982, 214f).

In ganz Europa betont man heutzutage den sprachlichen Unterschied. Forderungen nach regionaler Selbstverwirklichung kommen auf, die Sprache ist das Symbol dieser regionalen Identität (ESSER 1983, 65). Für Deutschland sieht Hartig eine hohe "Bereitschaft, die regionale Loyalität durch eine dialektspezifische Aussprachefärbung zu erkennen zu geben". Je südlicher der Sprecher wohnt, desto höher die Bewertung der Dialektfärbung (HARTIG 1990, 128).

2.6.3. Heimat und Dialekt

Wie beschrieben, sichern Sprachformen ihren Sprechern einen Platz in einer Gemeinschaft zu. Die Sprachform ist das primäre Identitätssymbol, gleiches gilt natürlich auch für die deutschen Dialekte. Das Gruppenidentitätsbewußtsein der Dialektgemeinschaft dient auch als Abgrenzung nach außen (ESSER 1983, 125f). Mundart gilt als "Signal des Geerdet-Seins und als Ausweis eines Anspruchs auf Heimat". Sie gilt als direkter, als ein solidarisches und gutes Kontaktmittel (KÖSTLIN 1987, 17-19). Pathetisch klingt das in älterer Literatur: Die Mundart wurzelt "tief in der heimischen Erde, ist Ausdruck dieser Heimat selbst" (MARTIN 1959, 12).

Roth beschreibt das nüchterner: "Den meisten Sprechern wird es dabei in der Regel auch nicht um Mundart- oder Heimatpflege gehen, sondern sie benutzen eben die unter ihnen übliche Sprache. Der Diskurs über das Mundartsprechen als Ausdruck regionaler Identität und seine tatsächliche Verwendung klaffen m. E. im Hinblick auf die Frage nach Heimatpflege und -verbundenheit deutlich auseinander." Schließlich sei Mundart als einzige zur Verfügung stehende Varietät auch heute noch eine Sprachbarriere. Insofern greife die Gleichung Dialektbenutzung gleich Heimatbindung zu kurz (ROTH 1993, 84). Die Gemeinsamkeiten von Heimat und Dialekt - Natürlichkeit, Einfachheit, Emotionalität, Verwurzelung, Egalität - bezeichnet er als "Mythen" (ROTH 1993, 86f).

Immerhin geben auch Kritiker der Mundart/Heimat-Vorstellung zu, daß Mundartsprecher emotionell an ihre Sprachform gebunden sind und die standardsprachlichen Konfrontionen zu einer Entfremdung von der eigenen Person führen können (RIS 1978, 95). Die erzwungene Entfernung von der Mundart bewirkt eine Entfremdung von der restlichen Familie, deren engerem Kommunikationskreis und vom Freundeskreis, der bei der bisherigen Sprachform bleibt (BAUSINGER 1973, 22).

Mattheier unterscheidet vier Typen von Orten hinsichtlich ihrer Ortsloyalität und dem Symbol dafür, dem Dialektgebrauch. Bei Orten ohne Ortsloyalität bleibt vom Dialekt nur noch ein leichter Regionalakzent, bei Orten mit sekundärer Ortsloylität entwickelt sich eine regionale Umgangsprache. In der kosmopolitisch orientierten Metropole wird Dialekt entweder aufgegeben oder lebt als stigmatisiertes Symbol weiter. Nur bei Orten mit einer primären Ortsloyalität, an denen die ortsbezogenen Wertstrukturen noch existieren, wirkt der Dialekt stabilisierend. Mattheier vermutet: "Je weiter die Ortsloyalität in einem Ort abgenommen hat, desto geringer ist die sprachsoziologische Bedeutung der überkommenen ortstypischen Ausdruckmittel, also des Ortsdialektes." Indizien für Ortsloylität und "offen geäußerte Heimatliebe" sind fehlende Bereitschaft wegzuziehen und Stolz auf den Ort (MATTHEIER 1985, 147-149).


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