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Preisinger: Entwicklungschanchen des Tourismus in TRNC


2. Fremdenverkehrssoziologie

2.1 Soziologische Freizeitdefinition

In der Soziologie versteht man unter Freizeit "die Zeit, die frei ist von Erwerbsarbeiten oder berufsähnlichen Tätigkeiten (Haushaltsarbeiten, Hausaufgaben), von der Befriedigung notwendiger biologischer Bedürfnisse (Schlaf, Ernährung, Hygiene) und von obligatorischen Beschäftigungen mit Verpflichtungscharakter im familiären und sozialen Bereich" (SCHÄFERS 1992, S.93).

2.2 Qualitative und quantitative Entwicklung der Freizeit

Das Reisen ist keineswegs eine moderne Erscheinung. Die Art und Weise zu reisen und die zugrundeliegenden Motive haben sich in den verschiedenen Epochen jedoch gewandelt. War das Reisen in der Antike noch Ausdruck von Schicksal gottgewollter Notwendigkeit und Läuterung, so ist es heute Symbol für Freiheit, Abenteuer, Bildung und Spaß. Neben die herkömmlichen Reisemotive - Handel oder kriegerische Unternehmungen - traten zur Zeit der Römer erstmals gesundheitsorientierte Motive. Im Mittelalter gewannen religiöse Beweggründe an Bedeutung, während das Bildungsmotiv für die frühe Neuzeit bezeichnend war (KRIPPENDORF/KRAMER/MÜLLER 1987, S.4f; KULINAT/STEINECKE 1984, S.41). Gleich welche Motive für das Reisen in jenen Epochen ausschlaggebend waren, sie hatten alle zwei Dinge gemeinsam: Zum einen war das Reisen der Oberschicht vorbehalten, zum anderen war das Reisen strapaziös. Die Industrielle Revolution bedeutete deshalb nicht nur einen Fortschritt in technischer und ökonomischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Erstmals konnten reiche Kaufleute und Fabrikanten verreisen. KULINAT/STEINECKE (1984) geben eine gute Übersicht über die nun einsetzende Regelhaftigkeit in der Entwicklung des Reisens. Das Bürgertum, nunmehr zu Wohlstand gekommmen, immitierte das Verhalten der Adeligen und eroberte seinerseits die bis dahin dem Adel vorbehaltenen Reiseziele. KULINAT/STEINECKE (1984) sprechen in diesem Zusammenhang von einem Segregationsdruck des Adels, sich auch in der Freizeit von den unteren Schichten abzusetzen. Die folgende Zeit wurde von der Suche nach neuen Plätzen von seiten des Adels und dem allmählichen Nachrücken der Bürger geprägt, wobei diese Entwicklung bis heute noch nicht abgeschlossen scheint (s. Anhang 2). So wurden im Zuge dessen zuerst die Kurorte, z.B. Turnbridge, Spa, Vichy, Baden-Baden, Karlsbad und Marienbad erobert, später die "sea-resorts" sowie die Gebirge. Mit dem Eintritt ins Eisenbahn- und Dampfschiffzeitalter und dem Ausbau des europäischen Straßennetzes, welches eine Reduzierung der Strapazen bedeutete, trat ein völlig neues Reisemotiv in den Vordergrund - das Vergnügen. "...Reisen als etwas, das man ganz ohne Grund tat" (LEED 1993, S.28). Als Wendepunkt zum "modernen Tourismus" wird bis heute Thomas Cooks legendäre Reisezugfahrt zur Temperenzlerkonferenz 1841 von Leicester nach Loughborough verstanden, die einer Gesellschaftsreise gleichkam (BAUSINGER 1991, S. 348).

Der von KRIPPENDORF eingeführte Begriff der touristischen Explosion ist auf den wachsenden Wohlstand, die Verstädterung, den zunehmenden Motorisierungsgrad und auf die Reduzierung der Arbeitszeiten zurückzuführen.

Abb. 1: Entwicklung der Lebensarbeitszeit

Abbildung

Quelle: OPASCHOWSKI 1993, S.15

Nachfolgendes Schaubild untersucht die Veränderung von 1950 bis zum prognostizierten Jahr 2010. In Anlehnung an den Begriff des demographischen Überganges kann hier vom Lebensstilübergang gesprochen werden.

Abb. 2: Wie werden wir nach dem Jahr 2000 leben?

Abbildung

Quelle: OPASCHOWSKI 1988, S.31

Wie aus dem Schaubild ersichtlich wird, hat die Freizeit seit 1990 die Arbeitszeit überholt, während aber die Obligationszeit stetig zugenommen hat. Bedeutend ist nicht nur die Zunahme der Freizeit, sondern daß hierdurch auch das individuelle Bewußtsein der Menschen verändert und ein Wertewandel hervorgerufen wurde. Die ehemals dominanten Lebensprinzipien wie Leistungsprinzip oder Berufsethos treten in den Hintergrund. Das Zeitdenken verdrängt das Gelddenken. Die freigestaltbare Zeit gewinnt an enormer Bedeutung vor dem Hintergrund der zunehmenden Angst der Menschen "zu wenig Zeit zu haben". Dies ist auf den Anstieg der Obligationszeit zurückzuführen. Die Aussage "Wir nutzen die Zeit mehr als daß wir sie verbringen" (OPASCHOWSKI 1988, S.161), zeigt die empfundene Diskrepanz zwischen gestiegener Freizeit und erlebtem Zeitmangel.

INGLEHART konnte in den postindustriellen Gesellschaften einen Wertewandel nachweisen, der durch den Generationswechsel induziert wurde (SCHÄFERS 1992, S.376), d.h. die Nachkriegsgeneration orientierte sich noch vornehmlich an materiellen Werten, während die nachfolgenden Generationen, materiell gesättigt, die postmateriellen Werte wie individuelle Selbstentfaltung und Freiheit anstreben. Korrelierend mit diesem Wertewandel haben sich neue Lebensstilströmungen ergeben. Neben der traditionellen, arbeitsorientierten Lebenseinstellung, die zunehmend an Bedeutung verliert, dominiert heute die hedonistische Lebenseinstellung, die auf dem Lustprinzip basiert und konsum- und mobilitätsorientiert ist. Daneben existiert noch eine dritte "ganzheitliche" Lebensweise, die Arbeit und Freizeit als Einheit betrachtet und quantitativ an Bedeutung gewinnen wird. Die neuen Lebensstilrichtungen bewirken laut OPASCHOWSKI einen "freizeitkulturellen Lebensstil", "der nicht nur das Freizeitverhalten, sondern die gesamten Lebensgewohnheiten verändert und auch Rückwirkungen auf die Arbeitswelt haben wird" (KRIPPENDORF/KRAMER/MÜLLER 1987, S.143). Der neue freizeitkulturelle Lebensstil impliziert auch ein verändertes Konsumverhalten. Freizeit wird aktiver, intensiver und genußvoller konsumiert.

2.3 Neue Reisetrends und ihre soziale und räumliche Wirksamkeit

Das Reisen ist in der heutigen Gesellschaft zur sozialen Norm avanciert. Während aber früher die Urlaubszeit als Gegenpol zur Arbeit gesehen wurde, in der man sich ausschließlich erholte und für den Alltag regenerierte, hat Urlaub heute einen ganz anderen Stellenwert bekommen. Die Urlaubsreise gilt als die Krönung des gesamten Freizeitlebens, sie erhält eine Komplementärfunktion. Daneben hat sich ein funktionaler Wandel vollzogen. Die eindimensionale Erholungsfunktion wurde vom multifunktionalen Urlaub abgelöst. Im folgenden sollen in Anlehnung an OPASCHOWSKI (1986, 1989, 1993) die wichtigsten Trends im Reiseverhalten aufgelistet werden, die diesem Wertewandel Rechnung tragen, wobei die bedeutendsten Strömungen einer näheren Analyse unterzogen werden.

Der wohl wichtigste Trend ist der Trend zu kürzeren Reisen. Bereits 1984 prophezeite OPASCHOWSKI in seinem Artikel "Wohin die Reise geht" das veränderte Reiseverhalten. 1993 erschien in der Zeitschrift Focus eine Auswertung über die Reisevisionen der Deutschen für die 90er Jahre, die OPASCHOWSKIS These untermauert (s. Anhang 3).

Die durchschnittliche Reisedauer der bundesdeutschen Bevölkerung nahm in den letzten Jahren konstant ab.

Abb. 3: Zunahme der Kurzreisen 1984-1987
Abbildung

Quelle: OPASCHOWSKI 1989, S.165

Diese Tatsache korreliert mit der Aussage (s.o.), daß der Erholungsanspruch weitgehend zurückgegangen ist. Drei Wochen reiner Erholungsurlaub scheinen zu lang. Gefragt sind spontan organisierte Kurzreisen mit der Tendenz zu Mehrfachreisen, wobei die Präferenz bei 3-4 bzw. 5-7 Tage-Reisen liegt (OPASCHOWSKI 1989, S.165). Es darf hier aber nicht übersehen werden, daß für das Gros der Bevölkerung die Kurzreise neben der großen Urlaubsreise ergänzenden Charakter hat. Diese neue Art des Reisens gilt als besonders intensiv bezüglich der Erlebnisorientierung (Der Urlauber möchte in kurzer Zeit "so viel wie möglich erleben") und der finanziellen Struktur, d.h. Kurzurlauber geben mehr Geld aus als Langzeiturlauber. "Bevorzugt werden Reiseziele der kurzen Zeiten und kurzen Wege. Bei einer guten Verbindung und Erreichbarkeit sind für sie selbst Kurztrips in die Türkei oder in die Karibik vorstellbar"(OPASCHOWSKI 1993, S.160). Die Kurzreise per se ist demzufolge äußerst raum-, zeit- und ökonomisch wirksam, ist aber auch eine Form des "harten" Tourismus. "Energieverbrauch, Umweltbelastung und persönlicher Reisestreß...sind im Vergleich zu längeren Urlaubsreisen überproportional hoch" (KIRSTGES 1992b, S.28). Bevorzugte Fremdenverkehrsarten in der Sparte der Kurzreisen sind u.a. Golfreisen, Musicalreisen, Städtereisen, Kulturreisen und Gourmettrips. Als Boomfaktoren für die Kurzreisen gelten das gestiegene Realeinkommen und ein Mehr an frei verfügbarer Zeit, bedingt durch Arbeitszeitverkürzung und Arbeitszeitenflexibilisierung (KIRSTGES 1992b, S.38). Abbildung 4 soll zusammenfassend die quantitative Entwicklung dieses Phänomens verdeutlichen, mit dem Hinweis auf die Tatsache, daß trotz stagnierender Reiseintensität durch den Trend zur Zweit- und Drittreise, der Tourismus in Zukunft noch Wachstumsimpulse erfahren wird.

Abb. 4: Entwicklung der Reiseintensität der Kurzurlaubsreisen 1975-1990 (Angaben in %)

Abbildung

Quelle: KIRSTGES 1992b, S.37

Das Auftreten ökologischer und sozialer Probleme in den Zielgebieten, verbunden mit einem zunehmenden Umweltbewußtsein der Reisenden, haben einen umweltverträglicheren Tourismus notwendig werden lassen. Unter schonendem Tourimus wird ein ökologisch sowie sozial verträglicher Tourismus verstanden. Es ist eine Art des Reisens, "wo die Welt 'anders, behutsam, billig, do-it-yourself, alternativ, neu, sanft...' entdeckt wird" (FREYER 1991, S.293) (s. Anhang 4). Dieser postmaterialistische Reisetyp kann gut in die von KULINAT/STEINECKE entwickelte Tabelle über die Phase der touristischen Entwicklung aufgenommen werden, dessen Pionierleistung und Trendsetzung in Zukunft sicherlich Nachahmer nach sich ziehen wird.

"Der moderne Tourismus durchdringt die Welt und ist gleichzeitig eine Welt für sich mit eigenen Gesetzlichkeiten, mit eigenen Studiengängen, mit einem weit verzweigten Berufsnetz vom Animateur bis zum Zugschaffner, mit vielfältigen Zielorten, unterschiedlichen Verkehrsmitteln, verschiedenen Formen des Aufenthalts" (BAUSINGER 1991, S. 344). Hinzu kommt heute die Grenzenlosigkeit des Reisens, die Überwindung von Raum und Zeit, das Auflösen kultureller Grenzen und der stetige Anstieg von Touristenzahlen. Es gibt kaum noch unberührte Landstriche. Aber wie in anderen gesättigten Wirtschaftszweigen ist man auch hier auf der Suche nach neuen Nischen. "Der Versuch, von überfüllten Ferienregionen auf weniger besuchte Landschaften auszuweichen, aber auch die Marktgesetzlichkeit, welche die Suche nach immer neuen profitablen Objekten anheizt, führt zur Überwindung riesiger Distanzen und zur touristischen Erschließung letzter Reservate" (BAUSINGER 1991, S.344).

Die Entwicklung des Tourismus ist noch nicht abgeschlossen, sie wird sich in ihrer Suche nach neuen Angeboten, Zielgruppen und veränderten Strukturen weiterentwickeln.


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